Nach Rückzug der Rebellen
Die Angst vor einem ukrainischen „Stalingrad“
Regierungstruppen in der Ukraine haben die bedeutenden Rebellenhochburgen Slawjansk und Kramatorsk kampflos zurückerobert. Zum Feiern ist den Soldaten aber nicht zumute. Denn die Separatisten wollen von Donezk aus zurückschlagen.
06.07.2014, von Konrad Schuller, Slawjansk
Kein Mensch. Kein Auto. Nichts. Von Straße zu Straße arbeitet die Kolonne sich vor, von Platz zu Platz, und je tiefer die Soldaten in das Innere von Slawjansk vordringen, desto gespenstischer wird diese Stadt. Immer wieder das gleiche Ritual: Die Fallschirmjäger der Regierung gehen in Deckung, hinter Bäumen, in Einfahrten, sichern die Kreuzung, nehmen im grellen Licht des Mittags die Schussflächen ins Visier – nur um wieder zu sehen, dass es nichts ins Visier zu nehmen gibt. Kein Mann, keine Frau, kein Kind auf den Straßen, nur Stille, und einmal ein schlafender Hund – mitten auf der Fahrbahn liegt er träge auf dem heißen Asphalt, und keiner ist da, dem er weichen müsste.
Konrad Schuller Autor: Konrad Schuller, Jahrgang 1961, politischer Korrespondent für Polen und die Ukraine mit Sitz in Warschau. Folgen:
Flüchtlinge, die in den vergangenen Tagen Slawjansk, das bis Samstag von prorussischen Rebellen besetzte nördlichste Industriezentrum des Kohle- und Hüttenreviers Donbass im Osten der Ukraine, verlassen haben, benutzen immer wieder das Wort „Geisterstadt“, wenn sie die Welt beschreiben, die sie hinter sich gelassen haben. Seit April haben die von Russland inspirierten Aufständischen mit den Streitkräften der Ukraine um diese Stadt gerungen, seit Wochen war die Strom-, Gas- und Wasserversorgung großflächig und dauerhaft zusammengebrochen, und wer immer konnte, suchte das Weite. Zuletzt schätzte die Gesundheitsverwaltung des Gebiets Donezk, zu welchem Slawiansk gehört, dass von ursprünglich 116.000 Einwohnern nur noch 45.000 in der Stadt ausgeharrt hatten.
Die Belagerung ist vorbei
Vielleicht war diese Schätzung sogar noch zu optimistisch. Als die ukrainische Armee am Samstag nach drei Monaten der Kämpfe ins Innere der Stadt eindrang, erwies sich die Leere jedenfalls als beinahe noch deutlicher als erwartet. Wie eine eingemottete Filmkulisse postsowjetischer Lebenswelten lag Slawjansk im steilen Mittagslicht. Spätsowjetische Blocks, spätsowjetische Denkmäler und ab und zu eben ein streunender Hund, mehr war hier nicht zu sehen. Nur ferner Geschützdonner erinnerte manchmal daran, dass im Donbass Krieg herrscht.
Von Kreuzung zu Kreuzung hat der Armeekonvoi sich vorgearbeitet, quälend langsam in die verlassene Menschensiedlung, immer auf der Hut vor Heckenschützen und Sprengfallen. Dann ist der zentrale Platz erreicht, eine weite Grünanlage mit einem Denkmal Wladimir Iljitsch Lenins in ihrer Mitte. Vor dem Rathaus, einem typischen Verwaltungsgebäude im spätkommunistischen Betonstil, stehen schon die ersten Schützenpanzer und Lastwagen, dazu Infanteristen in Kampfmontur: Die ersten Vortrupps sind schon vor einer Stunde eingetroffen, auf dem Dach des mit Sandsäcken verrammelten „Stadtsowjets“, der zuletzt das Hauptquartier der Rebellen war, ist die schwarz-blau-rote Flagge der Separatisten verschwunden, das Blaugelb der Ukraine weht am Fahnenmast. Die Belagerung ist vorbei.
Ukrainische Soldaten in Slawjansk Ukrainische Soldaten sichern schwere Waffen, die die Separatisten im Rathaus von Slawjansk zurückgelassen haben © Alexander Tetschinski Bilderstrecke
Wer die Flüchtlinge fragte, die auch an diesem Samstag draußen an den Armeeposten vor der Stadt in überfüllten Sammeltaxis, mit Kisten und Kästen, Hunden und Wellensittichen, aus der Stadt geströmt waren, Junge und Alte, Männer und Frauen, weinende Mütter mit weinenden Kindern auf dem Schoß, der hörte vom Ende der Separatistenherrschaft in Slawjansk stets die gleiche Erzählung: Der Morgen kam, und dann waren sie weg. Die Nacht zum Samstag war wie immer gewesen: Dunkelheit, Schüsse, sporadische Explosionen, vielleicht ein wenig mehr als sonst, aber durchaus in dem Rahmen, den man für normal zu halten gelernt hatte. Als sie sich dann aber aufgemacht hatten, mit Sack und Pack zum abgemachten Sammelpunkt für die Flucht aus der Stadt, waren die Barrikaden und Kontrollposten der schwerbewaffneten Rebellen, welche zuletzt das Leben dieser Stadt auf Schritt und Tritt kontrolliert hatten, plötzlich unbemannt gewesen.
„Die Armee weiß heute, wie sie kämpfen muss“
Die Armee der Regierung, die Slawjansk zuletzt wochenlang eingekesselt hatte, ist bis ins Zentrum der Stadt, zum Stadtsowjet, vorgerückt, wo die Aufständischen bis wenige Stunden zuvor eines ihrer Hauptquartiere hatten. Soldaten tragen kistenweise Ausrüstung und Waffen heraus: Panzerfäuste und Kalaschnikows, Gasmasken und schultergestützte Flugabwehrraketen, Patronen gleich zentnerweise. Kämpfer der zuletzt nicht gerade erfolgsverwöhnten ukrainischen Streitkräfte nehmen Aufstellung vor der Beute, fotografieren sich ohne Ende. Der neu eingesetzte Verteidigungsminister Valerij Heletej steht plötzlich am Platz, gibt strahlend in der Stunde des Triumphs Interviews. Die ukrainische Armee, die heute Slawjansk eingenommen habe, sei eben „nicht mehr dieselbe“ wie die, welche die Stadt noch Anfang April kampf- und ruhmlos einer Handvoll entschlossener Abenteurer überlassen habe, sagt der Minister. Mittlerweile seien drei Monate vergangen, die Regierung habe unablässig an der Erneuerung der Streitkräfte gearbeitet, und nun zeigten sich eben die ersten Erfolge: „Die Armee weiß heute, wie sie kämpfen muss.“
An den Worten des Ministers ist sicher nicht alles falsch. Anfang April, als die Separatisten unter ihrem Feldkommandeur, dem russischen Staatsbürger Igor Girkin, einem Mann mit dem Kampfnamen „Strelok“, die Stadt im Handstreich erobert hatten und den ukrainischen Luftlandetruppe die zu ihrer Abwehr angerückt waren, ihre Schützenpanzer gleichsam mit ein paar Backpfeifen abgenommen hatten, waren die Streitkräfte tatsächlich in beklagenswertem Zustand gewesen. Ende Februar, vor gerade erst einem guten Monat, hatte die demokratische Revolution des „Euromajdan“ in Kiew den autoritären Präsidenten Viktor Janukowitsch und sein kleptokratisches Oligarchenregime gestürzt. Die Armee, die zuvor jahrelang als Steinbruch zur Plünderung durch korrupte Beamte missbraucht worden war, erwies sich in ihren ersten Einsätzen als kaum handlungsfähig. Menschen und Material wirkten vernachlässigt, die Soldaten desorientiert und mutlos.
Das hat sich unterdessen verändert. Die neue Regierung hat mittlerweile mehr als vier Monate Zeit gehabt. Sie hat neue Freiwilligenbataillone aufgestellt und die reguläre Armee zumindest teilweise neu ausgerüstet. Die Soldaten, die am Samstag Slawjansk eingenommen haben, wirken denn auch ganz anders als ihre Kameraden, welche die Stadt im April verloren hatten. Sie bewegen sich koordiniert und diszipliniert, Waffen und Uniformen scheinen intakt, der Widerwille der frühen Wochen scheint wie weggeblasen.
Schäden wirken eher sporadisch
Dennoch sollte der Erfolg vom Samstag nicht zu falschen Schlüssen führen. Wer an diesem Tag mit den ersten Kolonnen ins menschenleere Slawjansk einfährt, kann nämlich gleich erkennen: Diese Stadt ist nicht im Kampf erobert worden. Außer einem einzigen brennenden Gebäude sind keine frischen Gefechtsspuren sichtbar. Es gibt keine qualmenden Autowracks, kein Blut an den verlassenen Barrikaden und zumindest auf den ersten Blick keine Toten auf den Straßen. Überhaupt wirkt die Stadt, um welche Regierung und Rebellen so lange gerungen hatten, besser erhalten als erwartet. Zwar sind immer wieder an Gebäuden und Fahrzeugen die Spuren der vergangenen Feuergefechte zu sehen. Immer wieder passiert die Kolonne Häuser mit zerschossenen Dächern und Fassaden. Dennoch wirken die Schäden eher sporadisch, und vor allem im Zentrum, wo die Rebellen ihre befestigten Sitze hatten, sind kaum Schäden zu sehen. Das Rathaus, einer ihrer wichtigsten Stützpunkte, wirkt bis auf wenige fehlende Fensterscheiben beinahe unbeschädigt. Der Eindruck, den Slawjansk am Tage der Befreiung macht, ist von einem hohen ukrainischen Regierungsbeamten am Sonntag denn auch mit den Worten beschrieben worden: „Die Terroristen sind nicht abgezogen, weil sie das unmittelbar mussten, sondern weil sie das so wollten.“ Die Rebellen stellen das im Übrigen ebenso dar. Denis Puschilin, der Präsident ihres durch Selbstausrufung entstandenen „Parlaments“ in der Gebietshauptstadt Donezk, hat nach dem Abzug aus der Stadt über Twitter mitgeteilt, hier habe nur ein „taktischer Rückzug“ stattgefunden. Der Kampf um das Donbass sei noch lange nicht vorbei und am Ende würden die Kämpfer der separatistischen „Volksrepublik Donezk“ „siegreich“ wiederkehren.
Warum die Rebellen sich zu dieser „Frontbegradigung“ entschlossen haben mögen, lässt sich nur vermuten. Äußerungen ihrer Führer deuten darauf hin, dass sie trotz des Stromes von Waffen und Kämpfern, der in den vergangenen Monaten unbestritten über die russische Grenze zu ihnen gelangt ist, vom Ausmaß der Hilfe aus dem Mutterland und vor allem über das Ausbleiben einer regulären militärischen Intervention durch Russland im Donbass enttäuscht sind. „Sie haben uns Hoffnung gegeben, und sie haben uns verlassen“, hat Puschilin etwa über Twitter verbreitet. All die Worte des russischen Präsidenten Wladimir Putin über den „Schutz des russischen Volkes“ seien zwar sehr schön gewesen – aber eben „nur Worte“.
Auch „Strelkow“, der berüchtigte Kommandeur der Rebellen von Slawjansk, hat zuletzt offen zugegeben, ohne eine Intervention Russlands werde die Stadt, der äußerste Punkt des Rebellengebiets im Donbass, nicht mehr lange zu halten sein. Deshalb vermuten auch Vertreter der Regierung, die Aufständischen seien nicht etwa kopflos geflohen, sondern sie hätten sich sehr bewusst aus ihrem entvölkerten Vorposten ins Kerngebiet ihrer Herrschaft zurückgezogen. Nun bildeten sie neue Schwerpunkte in der Millionenmetropole Donezk und im nahegelegenen Horliwka, einer Grubenstadt mit knapp 260000 Einwohnern. Ein Fachmann sagt, in diesem Ballungsgebiet planten die prorussischen Separatisten nun möglicherweise, der Kiewer Regierung ihr „Stalingrad“ zu bereiten.
„Taktischer Rückzug“ ist alles andere als planmäßig verlaufen
Die Lage am Sonntag scheint mit dieser Deutung übereinzustimmen. Außer Slawjansk haben die Rebellen am Samstag nach Darstellung der Regierung auch alle Ortschaften an der Landstraße zwischen dieser nördlichen Hochburg ihres Aufstands und ihrem eigentlichen Machtzentrum Donezk aufgegeben – neben der Industriestadt Kramatorsk auch die kleineren Orte Druschiwka und Kostjantyniwka. Die Verwaltung von Donezk teilt mit, zugleich seien neue Gruppen von Kämpfern in die Gebietshauptstadt Donezk geströmt. Innenminister Arsen Awakow äußert vor Journalisten am Sonntag, unter ihnen befinde sich auch der Slawjansker Feldkommandeur „Strelkow“, der in der „Volksrepublik Donezk“ das Amt des „Verteidigungsministers“ bekleidet.
Es gibt aber zugleich deutliche Zeichen dafür, dass der „taktische Rückzug“ aus Slawjansk aus Sicht der Separatisten alles andere als planmäßig verlaufen ist. Das Furchtbarste ist am Samstag auf ihrer mutmaßlich geplanten Abzugsstrecke zu sehen: Auf der Landstraße zwischen Slawjansk und Kramatorsk passiert die einrückende Armeekolonne vier zerstörte Schützenpanzer und einen durch eine gewaltige Explosion zerfetzten Kampfpanzer. Verstümmelte Leichen liegen um die Wracks, ungläubig angestarrt von ein paar völlig verstörten gefangenen Rebellen, zwei bebenden Frauen mit starren Augen und einem schmalen, bleichen, jungen Mann mit blutigem Kopf, der mühevoll etwas zu stammeln versucht. Die Soldaten berichten, die gepanzerten Führungsfahrzeuge der Richtung Süden abrückenden Rebellen seien genau an dieser Stelle auf eine von der Armee gelegte Sperre aus Panzerminen aufgefahren. Die Slawjansker Separatisten hätten ihren Abzug deswegen nicht geordnet fortsetzen können. Vielmehr hätten sie sich nach dem Ausfall ihrer gepanzerten „Speerspitze“ verteilt und daraufhin versucht, sich in einzelnen Fahrzeugen getrennt nach Donezk durchzuschlagen.
Möglicherweise ist der „taktische Rückzug“ der Separatisten wegen dieses Schlages dann auch viel weitergegangen als ursprünglich geplant. Flüchtlinge aus Slawjansk berichten am Samstag jedenfalls ebenso wie Quellen in der ukrainischen Regierung, nach ihrer Kenntnis hätten die Rebellen ursprünglich lediglich das ohnehin beinahe entvölkerte Slawjansk aufgeben und im benachbarten Kramatorsk einen neuen Stützpunkt bilden wollen. Wegen der Verluste ihrer Abzugskolonne hätten sie dann aber sämtliche Städte an der Straße nach Donezk aufgeben müssen. In der Tat ist die Armee am Samstagabend auch in diesen Ortschaften ohne Widerstand eingerückt.
Dennoch ist am Sonntag die Stimmung in der ukrainischen Führung keineswegs siegesgewiss. Dass die abgezogenen Rebellen von Slawjansk mittlerweile offenbar die Hochburg Donezk verstärken, macht trotz aller Freude über den Erfolg vom Samstag vielen erhebliche Sorgen. Donezk ist eine schwerindustrielle Metropole. Straßenkämpfe, Flüchtlingsströme, die Geiselnahme der gesamten Bevölkerung nach dem Vorbild von Slawjansk hätten hier weitaus dramatischere Folgen als in dem aufgegebenen Vorposten im Norden. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat deshalb die Einnahme von Slawjansk am Samstag einerseits als „Durchbruch“ im Kampf um die Einheit der Ukraine gewürdigt, andererseits hat er sofort hinzugefügt, in Zeiten, in denen Terroristen sich in Großstädten festsetzten, sei er „von Euphorie“ sehr weit entfernt. „Dies ist nicht die Zeit für Salutschüsse.“